Als im Jahr 3540 die SOL die Erde der Aphiliker verließ und den Heimflug vom Mahlstrom der Sterne zur Milchstraße antrat, galt ihr Zentralrechner als die bis dahin vollkommenste Neuentwicklung auf dem Gebiet hyperschnell arbeitender Biopositroniken und war angeblich sogar NATHAN durchaus gleichwertig, trotz deutlich geringerer Ausmaße. Wäre SENECA nach den seinerzeitigen Prinzipien von NATHAN erbaut worden, hätte dies das Volumen einer Kugel von 30 Kilometern Durchmesser beansprucht!
SENECA befindet sich im Achsenschnittpunkt des zylindrischen SOL-Mittelteils und füllt das Volumen einer Kugel von 500 Metern Durchmesser aus. Gestaffelte Paratronschirme, zwei Meter starke Panzerwände aus Ynkelonium-Terkonit-Verbundstahl sowie zwei hermetisch abriegelbare Zugänge machen diese Kugel zu einer autarken Einheit.
Der durch die gesamte SOL verlaufende Zentral-Antigravachslift passiert den SENECA-Bereich hierbei durch eine Hohlröhre und hat keinen Zugang zum Inneren des Rechners. Vielfältige Wartungs- und Reparaturzugangsmöglichkeiten durchziehen allerdings als verzweigtes System von Kanälen, Schächten und Zwischendecks die SENECA-Kugel.
Kernstück SENECAS ist ein ebenfalls aus Panzerstahl gefertigter Würfel, dessen lichte Innenmaße 50 Meter Kantenlänge erreichen. Dieses Volumen von 125.000 Kubikmetern birgt das ursprünglich von der Hundertsonnenwelt stammende Zellplasma. Die nervenähnliche Masse reicht aus, um echte Intelligenz zu entwickeln, stellt die eigentliche »Seele« des Rechners dar und ergibt in Verbindung mit den positronischen Elementen sein Pseudo-Bewusstsein.
Die Frage, ob hier noch von »Pseudo« (griechisch für »Unwahrheit, Täuschung«, also dem Schein nach) die Rede sein kann, wollte keiner der ursprünglichen Konstrukteure beantworten. Die Solaner, die viele Jahrhunderte an Bord des Generationenschiffes lebten, waren weniger zimperlich: Für sie hatte SENECA eine »Seele«, war Herz und Hirn der SOL, ein Freund, dem man sogar seine Schrullen nicht absprach. Der Ausspruch »Das wüsste ich aber ...« hatte seinen Hintergrund in einem harmlosen Konstruktionsfehler, weil SENECA in seinem »Selbstbehauptungssektor« eine Balpirol-Halbleiterverbindung zuviel eingebaut bekam ...
Umgeben ist dieser Kern von den obligatorischen Ver- und Entsorgungseinrichtungen, die das Überleben des Zellplasmas gewährleisten, sowie von exakt 1.679.616 Bioponblöcken, deren vernetzte Ausläufer das Plasma durchziehen und die syntho-organischen Verbindungseinheiten der Balpirol-Halbleiter zwischen organischen Nervenbahnen und positronischen Leitern darstellen. Die Umsetzung von organischen Impulsen in technisch nutzbare Symbolgruppen und umgekehrt erfolgt über die Hypertyoktische Verzahnung der Bioponblöcke.
Gemäß der posbischen Definition wird der Komplex von Hypertoyktischer Verzahnung plus Hyperimpuls-Umformer plus Positronik als Hyperinpotronik bezeichnet, bei der der Plasmazusatz »nur« die Aufgabe des »Gefühlssektors« übernimmt – andererseits aber gerade deshalb ein gewisses Eigenleben, um nicht zu sagen Kreativität entwickelt: Die Denkvorgänge SENECAs sind also effizienter und erreichen im Rahmen der Grundsatzprogrammierungen einen nicht zu unterschätzenden Grad individueller Entscheidungsfreiheit.
Weil SENECA, sollte der Rechner einmal in Teilen zerstört oder beschädigt werden, nicht das Gesamtschiff lahm legen darf, haben die Konstrukteure – insbesondere im Zuge der Nachrüstung beim Umbau der SOL 427 NGZ – Wert darauf gelegt, dass das System in sechs gleichwertige und autonom funktionierende Bereiche geteilt werden kann, die sich gegenseitig kontrollieren und überwachen.
Zugang zu den Programmen haben ausschließlich autorisierte Personen; die Eingaben hierzu erfolgen von der Alpha-Zentrale-SENECA aus, welche sich innerhalb der Panzerstahl-Kugelschale befindet. SENECA hat auf die so genannte Partitionierung gar keinen Zugriff, es gibt auch nicht die Möglichkeit einer Gegenwehr: eines der vielfach redundanten Sicherungssysteme, die die Konstrukteure einbauten.
Jede Teilpartitionen kann auf sämtliche Ressourcen zugreifen. Handelt es sich nun um eine beschädigte Partition, bleibt sie entweder inaktiv, oder die übrigen fünf Sechstel unterbinden fehlerhafte Schaltungen. Im Notfall ist sogar ein Sechstel SENECAS in der Lage, den Schiffsbetrieb aufrechtzuerhalten – völlig ausreichend, um den Fachleuten an Bord Gelegenheit zu geben, die beschädigten oder aus sonstigen Gründen ausgefallenen Bereiche zu reorganisieren oder zu reparieren.
Partition III existiert nicht mehr: Sie wurde am 10. Januar 1291 NGZ zerstört, um die von Shabazza eingesetzte Nano-Kolonne auszuschalten. SENECA arbeitet seither also mit reduzierter Kapazität – der Zustand ist dennoch stabil.
Ab 826 NGZ fand der Umbau der SOL in der Kosmischen Fabrik MATERIA statt; SENECA war von der Außenwelt abgeschnitten und isoliert. Die Kabel- und Kommunikationsleitungen existierten zwar teilweise noch, waren aber zweckentfremdet und dienten anderen Anlagen und Gerätschaften – SENECA war als Steuer- und Kontrollzentrum ausgeschaltet. Der Steuerrechner SOLHIRN wurde allerdings im Zuge der Rückeroberung vernichtet, danach wurden alle alten Steuerleitungen und Kommunikationskanäle wiederhergestellt.
Obwohl beim ersten Durchgang durch den Mega-Dom im PULS von DaGlausch die syntronischen Elemente zerstört wurden, funktionieren die mit SENECA verschalteten zahlreichen positronischen Knotenrechner. Gleiches gilt für die Haupt-Steuerpositroniken der SOL-Zellen, die auf Camelot repariert wurden.
SENECAS Weigerung, die SOL zu teilen, wirft die Frage auf, wie sehr man an Bord eigentlich eigenbestimmt agiert oder wie sehr eine fremde Macht die Menschen der SOL fernsteuert. Oder anders gefragt: Wer oder was ist die übergeordnete Instanz ...?
Rainer Castor